Mit einem “NRW-Pakt Bildung” Schule wieder stark machen

Hierfür solle eine ständige “Zukunftsgruppe Bildung” zwischen kommunalen Spitzen, Landtag und Landesregierung eingerichtet werden.

Der Brief zum Download und im Wortlaut:

 

Sehr geehrter Herr Kufen,
sehr geehrter Herr Eiskirch,

die Hiobsbotschaften über die Bildungskatastrophe in unserem Land wollen nicht abreißen. Tausende von unbesetzten Lehrerstellen, abnehmende Kompetenzen und Bildungsreife unserer Kinder, marode Schulgebäude, insolvente Kita-Träger, schließende OGS-Einrichtungen – all das lässt mich immer schlechter schlafen. Weil ich befürchte, dass wir gerade dabei sind, unsere Zukunft zu verspielen. Und dass unser Bildungssystem in seiner jetzigen Form den Herausforderungen nicht standhalten wird – wenn wir jetzt nicht endlich umsteuern.

Der Bildungskongress des Städtetag Nordrhein-Westfalen fällt mitten in die bestehende Bildungskatastrophe. Er ist also genau der richtige Ort, um über die aktuellen Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten für ein besseres Bildungssystem in unserem Land zu diskutieren. Wie Sie wissen, hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen vor einigen Monaten auf das Bestreben meiner Fraktion die Enquete-Kommission „Chancengleichheit in der Bildung“ eingerichtet. Die besten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sollen Vorschläge entwickeln, wie die Strukturen in unserem Bildungssystem so verbessert werden können, dass kein Kind darin zurückgelassen wird.

Ich verspreche mir von der Arbeit dieser Kommission sehr viel. Sie wird eine wissenschaftliche Grundlage für eine Neuausrichtung unserer Bildungslandschaft liefern. Gleichzeitig darf sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass es neben langfristig notwendiger Veränderungen im System auch kurzfristiger Maßnahmen bedarf, die wir jetzt schnell in die Hand nehmen müssen. Die Menschen in unserem Land sehen die Baustellen tagtäglich und erwarten endlich konstruktive Lösungsvorschläge. Die Zeit der Problembeschreibung muss vorbei sein. Die Herausforderungen sind so groß, dass wir – ähnlich wie in der Migrationsfrage – längst einen parteiübergreifenden Konsens benötigen. Wir brauchen einen New Deal, bei dem alle Bildungspartner der gesamtstaatlichen Verantwortungsgemeinschaft mit am Tisch sitzen – also nicht nur die demokratischen Fraktionen des Landtags, sondern auch die Kommunen in unserem Land. Hierfür sollte eine ständige „Zukunftsgruppe Bildung“ zwischen kommunalen Spitzen, Landtag und Landesregierung eingerichtet werden. Vor diesem Hintergrund übermittle ich Ihnen mit diesem Schreiben die zentralen Handlungsfelder, die aus meiner Sicht umgehend zu bearbeiten sind und für deren erste Diskussion der Bildungskongress des Städtetag Nordrhein-Westfalen genau der richtige Ort ist.

Folgende Punkte müssen dabei in die Hand genommen werden:

Die Lehrkräfteversorgung.

  • Zu wenig Lehrkräfte bedeuten zu wenig Unterricht. Woche für Woche werden rund 180.000 Unterrichtsstunden allein aufgrund nicht besetzter Stellen nicht gegeben. Die Landesregierung betont immer wieder, dass die Lücke fehlender Lehrerinnen und Lehrer laut ihrer Prognosen frühestens in zehn Jahren geschlossen werden kann. Bis dahin können wir aber nicht warten. Zur Überbrückung schlagen wir daher die Errichtung eines modernen Lehrerarbeitszeitkontos vor, auf dem jede zusätzlich erbrachte Unterrichtsstunde nach einer Zeit von zehn Jahren doppelt gut geschrieben wird. Ausgenommen von dieser Maßnahme sollen grundsätzlich alle Lehrkräfte ab dem 50. Lebensjahr sein. Darüber hinaus sollten neu ausgebildete Lehrkräfte vorrangig an Schulen zum Einsatz kommen, wo der Lehrkräftemangel am schwersten wiegt. Das gilt insbesondere für Schulen mindestens ab Sozialindex 5. Hierfür sollen die Lehrkräfte eine besondere Leistungsvergütung erhalten.

Eine umfassende Lehrplanreform bis 2027.

  • Unsere Lehrpläne sind nicht auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts eingestellt. Sie sind nach wie vor gefangen in einem reinen Fächerglauben und nicht an tatsächlicher  Kompetenzförderung orientiert. Unsere gesellschaftlichen Herausforderungen sind zudem so groß, dass sie im Lebens- und Lernort Schule nicht mehr allein durch ein althergebrachtes Curriculum bewältigt werden können: Gewalt und sexualisierte Gewalt, mentale Belastungen, Rassismus, Antisemitismus, Angriffe auf die Demokratie – all das nimmt im Alltag junger Menschen insbesondere durch Soziale Medien sehr viel Raum ein. Unser Bildungssystem muss darauf eine Antwort geben, indem es unseren Lehrkräften mehr pädagogische Freiheit einräumt, um eigene Schwerpunkte setzen zu können. Wir vertrauen unseren Lehrerinnen und Lehrern und wollen ihnen diesen Freiraum geben. Deshalb schlagen wir eine stärkere organisatorische Selbstständigkeit von Schulen und eine Konzentration der Qualitätsanalyse und Schulberatung auf die Kontrolle von Lernergebnissen vor.

Eine neues Unterstützungssystem für eine veränderte Schülerschaft.

  • Steigende Armut, Zuwanderung oder auch eine veränderte mediale Sozialisation bringen vielfach Sprachprobleme und eingeschränkte soziale Kompetenzen mit sich – das fordert unsere Lehrkräfte auf ganz andere Art und Weise, als wir das bisher kannten. Diese Herausforderung ist nur mit einem multi-professionellen Unterstützungssystem zu bewältigen, dem wir uns in der Politik endlich widmen müssen. Unsere Idee eines Chancenjahres für Kinder mit grundlegendem Förderbedarf vor der Einschulung kann hierzu genauso einen Beitrag leisten wie kostenfreie Kitas und Familienzentren an allen Grundschulen in NRW. Gerade hierfür wäre ein „New Deal“ in der Bildung von unschätzbarem Wert. Darüber hinaus benötigen wir ein verbindliches und gesetzlich verpflichtendes datengestütztes Übergangssystem an den Berufskollegs für alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I, die dort keinen Schulabschluss erlangt haben. Dabei muss auch geprüft werden, welche Elemente der Orientierungsklassen frühzeitiger in die Sekundarstufe I vorgezogen werden können.

Eine echte Digitalisierung der Schulen.

  • Bis heute gibt es keine geschlossene IT-Strategie für die Schulinfrastruktur. Es fehlt an Systematik, an Fachpersonal und auch an Geld. Stattdessen haben wir 800 Schulträger, die ihre eigene
    Ausstattung haben. Es gibt kein IT-Landesamt für die Schulen, sondern dezentrale Zuständigkeiten bei den Bezirksregierungen und kommunalen Supportern, die alle autonom handeln. Im 16. Schulrechtsänderungsgesetz wurde das digital gestützte Lernen programmatisch gesetzlich verankert, ohne die Schulfinanzierung zwischen Land und Kommunen neu zu regeln. Alles das muss neu aufgerollt und klar geregelt werden. Wir streben hierzu durch eine Klarstellung im Schulgesetz eine Vereinbarung an, wonach alle Lehrkräfte sowie alle Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der Legislaturperiode eine 1-zu-1-Ausstattung mit Endgeräten auf Kosten von Land und Bund (unter Zuhilfenahme des Digitalpakts II) erhalten. Im Gegenzug übernehmen die Kommunen die Kosten für den Support.

Eine Verbesserung der Steuerung von universitärer Lehrerausbildung.

  • 2007 ohne Not aus der Fachaufsicht des Landes entlassen – seitdem fehlt eine Steuerung der Lehrerausbildung an unseren Universitäten völlig, auch mit Blick auf die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, die im Übrigens unsere einzige Chance sind, künftig noch ausreichend Lehrkräfte für die MINT-Fächer zu haben. Zwar konnten zusätzliche Studienplätze geschaffen werden – aber der Studienerfolg ist aus dem Blickwinkel geraten. Das müssen wir wieder ändern. Wir schlagen daher einen verbindlichen Landesentwicklungsplan mit den Hochschulen zum weiteren Ausbau der Studienplätze für die Lehrämter insbesondere in Grundschulen und der Sonderpädagogik vor. Mittel des Landes für die Hochschulen sollen
    demnach nicht mehr allein an die Studienplatzzahl gebunden sein, sondern zu 30 Prozent an den tatsächlichen Studienerfolg.

Die Schaffung eines Landessondervermögens Schule.

  • Eine nicht auskömmliche Bildungsfinanzierung, die von der jeweiligen Haushaltslage des Landes und der Kommunen abhängt, verhindert eine kontinuierliche Strategie im Sinne der o.g. Punkte. Wir brauchen jetzt ein Sondervermögen „Schule“ in Höhe von 10 Mrd. Euro für die Jahre 2025 bis 2035 über den Landeshaushalt hinaus. Eine gerechtere Erbschaftsbesteuerung von Multimillionen- und Milliardenvermögen wäre eine zweckgebundene Finanzierungsgrundlage dafür. Unser gemeinsamer Einsatz hierfür im Bund könnte einer Kreditaufnahme für
    das Land unnötig machen.

Sehr geehrter Herr Kufen,
sehr geehrter Herr Eiskirch,

wie Sie sehen, ist die Liste lang. Aber wir haben jetzt die Chance, sie anzupacken und an den herrschenden Missständen gemeinsam etwas zu ändern. Wir sind dazu bereit, einen neuen  Schulkonsens über die akuten und drängenden Fragen zu vereinbaren, der eine neue Basis bilden kann für ein gerechtes, modernes und funktionierendes Bildungssystem der Zukunft. Ich
bin mir sicher: Die Kommunen sind es auch. Lassen Sie uns beim Bildungskongress des Städtetag Nordrhein-Westfalen gemeinsam dieses Signal senden.

Mit besten Grüßen
Ihr
Jochen Ott

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